Freeze und Klimawandel im Ratssaal oder ...
Als Bürgermeisterin Julia Wieland am Donnerstagabend in einer denkwürdigen Gemeinderatssitzung nach etwas mehr als einer halben Stunde keine Tagesordnung mehr hatte, beendete sie die Sitzung mit der rhetorischen Frage an die Räte, ob sie eigentlich über die Folgen ihres Vorgehens nachgedacht hätten. Eine Frage, die sie sich 20 Minuten früher vielleicht auch selbst hätte stellen können.
Spulen wir etwas zurück:
Zweimal schon hat der Gemeinderat das Ausscheiden des offenkundig nur zum Schein angetretenen Bürgerlistenvertreters Dr. Praefcke nicht bestätigt. Jetzt ist die Kommunalaufsicht verantwortlich, den Vorgang im Sinne der Gemeindeordnung abzuschließen.
Die Kommunalaufsicht kündigt einen entsprechenden Beschluss an, hält aber mit der Anforderung einer Stellungnahme der Gemeinde bis zum 4. Oktober die Entscheidung weiterhin zurück.
Von da ab stehen sich zwei Einschätzungen gegenüber:
1. Kommunalaufsicht und Bürgermeisterin:
Da in der Altersfrage kein Ermessensspielraum besteht, sei Dr. Praefcke auch dann kein Gemeinderatsmitglied mehr, wenn die gesetzlich vorgesehene Feststellung des Gemeinderats noch nicht erfolgt ist. Nach dieser Logik fehlt dem Gemeinderat ein Miglied und ein Nachrücker wäre zu verpflichten.
2. Die Ratsmehrheit:
Da die Bestätigung des Gemeinderats in der Gemeindeordnung vorgeschrieben ist und deshalb auch von der Kommunalaufsicht ein entsprechender Beschluss angefordert wurde mit der Inaussichtstellung einer sonst folgenden Entscheidung der übergeordneten Instanz, sei der Vorgang noch offen und Dr. Praefcke noch Gemeinderat. In dieser Logik kann noch kein Nachrücker verpflichtet werden, weil sonst möglicherweise alle mit einem "überbesetzten" Gemeinderat getroffenen Entscheidungen anfechtbar wären.
In Kenntnis beider Positionen hat die Verwaltung als Punkt 2 der Tagesordung für die Ratssitzung vom 19. September die Verpflichtung des Nachrückers angesetzt. Das war eine für die Position 1 konsequente wenn auch vorhersehbar umstrittene Vorgehensweise.
Wenig überraschend hat im Gegenzug die Ratsmehrheit sich gezwungen gesehen, diesen Punkt von der Tagesordnung zu streichen.
Zu diesem Zeitpunkt lag die Schadensminimierung in den Händen der Bürgermeisterin. Ohne die Legitimation der Tagesordnung hätte die Verpflichtung des Nachrücker auch in der nächsten Ratssitzung Mitte Oktober erfolgen können, da dann die angekündigte abschließende Feststellung der Kommunalaufsicht vorliegen dürfte. Schadensrisiko: Vielleicht hätte es eine Rüge der Aufsichtsbehörde wegen der aus deren Sicht zu späten Durchführung gegeben.
Stattdessen entschied sich Bürgermeisterin Julia Wieland, die eingangs genannte "Chance des Innehaltens" nicht zu ergreifen. Außerhalb der Tagesordnung unter dem Protest etlicher Gemeinderäte wurde die Verpflichtung des Nachrückers Thomas Merz vollzogen. Merz nahm Platz am Ratstisch.
Damit musste allen Beteiligten klar sein, dass nach der Rechtsauffassung der Ratsmehrheit jetzt der nicht mehr ordnungsgemäß zusammengesetzte Gemeinderat keine Beschlüsse fassen dürfe.
In der Konsequenz dieser Lagebeurteilung wurden von der Ratsmehrheit nach einer kurzen Sitzungsunterbrechung alle weiteren Tagesordnungspunkte vertagt. So konsequent, so vorhersehbar aber auch mit Freeze und Klimawandel so schädlich.
Freeze:
- Etliche zeitkritische Beschlüsse wie etwa zur Hallenbadsanierung und zur Feuerwehrausstattung ---> Vertagt
- Der Prozess für die Bürgerbeteiligung bei Windkraftprojekten ---> Ungeklärt
- Kirchweih-Ladenöffnung am 20. Oktober ---> Ungewissheit für die Betriebe
- Bauanträge ---> Müssen warten
- Ausschüsse des Gemeinderats ---> Noch nicht arbeitsfähig
Klimawandel:
Nach knapp anderthalb Jahrzehnten einer auf Abstimmung und Ausgleich fokussierten Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Gemeinderatsfraktionen sehen viele ehemalige und aktuell verantwortliche Gemeinderäte einen bislang sich schon vorsichtig abzeichnenden Klimawandel seit dem jüngsten Eklat im Ratssaal deutlich bestätigt. Bei allem Verständnis für die unterschiedlichen Rechtspositionen und die sich daraus ergebenen tatsächlichen oder vermeintlichen Handlungszwänge kündigten etliche sehr verärgerte und empörte Gemeinderäte in einer lebhaften Nachbesprechung an, sich "nicht noch einmal so behandeln" lassen zu wollen.
Fazit
Die "Fall Praefcke" wird in absehbarer Zeit abgeräumt sein. Der spätestens dann (zumindest rechtlich) korrekt zusammengesetzte Gemeinderat wird wieder tagen und beschließen. Bürgermeisterin und Gemeinderäte werden sich wohl auf die Suche nach milderem Arbeitsklima begeben müssen und vielleicht auch noch die Frage beerdigen, wer denn eigentlich der Schadensverursacher ist.
Und die Bürgerliste hat die Herausforderung, aus der überwiegenden Wahrnehmung als Trickser und Täuscher herauszukommen.
Alles wird gut, sagt die Zuversicht - es bleibt kompliziert, sagt der Verstand.
Joachim Geffken, RPN Herausgeber
P.S.: Der von mir sehr geschätzte erfahrene Verwaltungsjurist und Fraktionssprecher der Grünen Klaus Fingerhut kommt mit seiner Expertise zu teilweise anderen Bewertungen. Die Lektüre dieser Stellungnahme empfehle ich gerne (hier lesen).
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